Gute Stimmung steckt an

Das Geheimnis der guten Klavierstimmung: Die Spreizung

Klavier traurig verstimmt Kawai gespreizt gestimmt

Sie hören ein etwas über 20 Jahre altes Klavier der Marke Kawai, Modell CS40. Es wurde längere Zeit nicht gespielt und daher natürlich auch nicht gestimmt. Ob das ein Problem ist? Nein, nicht für die Klavierstimmerei Praeludio®. Das in solchen Fällen meist notwendige Vor- und Endstimmen wird in einem Termin zum Festpreis durchgeführt.

Vor dem Stimmen lernen wir uns kennen, das Klavier und sein Stimmer. Dazu spiele ich im ersten Teil des Probespiels alle Töne in einer angenehm klingenden Tonfolge. Damit überprüfe ich neben der Funktion des Spielwerks, ob sich die Stimmung über den für Musikinstrumente außergewöhnlichen Tonumfang von über 7 Oktaven auf einer Ebene befindet, oder ob die Stimmung zum Beispiel im Diskant abfallend ist. Meist ist der Diskant ein kritischer Bereich. Immer wieder trifft man als Klavierstimmer auf Pianos, die im Diskant zu tief sind. Doch mangels einer entsprechend sorgfältigen Überprüfung vor dem Stimmen bemerken viele Stimmer das Manko erst während dem Stimmen. Dann ist es jedoch zu spät, um die stärkere Verstimmung im Diskant nachhaltig korrigieren zu können, da man nun nicht mehr die dafür notwendige Vorarbeit der Vorstimmung durchführen kann. In diesem Fall bleibt nur noch die Strategie: Augen äh Ohren zu und durch... Das hört man dieser Verstimmung deutlich an. Die Erwartungshaltung des Ohrs an bestimmte Tonhöhen wird in den oberen Oktaven nicht nur enttäuscht und damit das Gesamtergebnis emotional negativ geprägt. Als Zuhörer hat man den Eindruck, der Spieler würde die Tonart um einen halben Ton nach unten transponieren. Die Wirkung einer derartigen (Ver-)Stimmung ist ein entsprechender Stimmungstransfer auf den Klavierspieler und seine Zuhörer. Spielt man bei einer solch nach innen gekehrten Stimmung dann auch noch traurig wirkende Musik, muss man sich nicht wundern, wenn es einem hinterher alles andere als gut geht. Tatsächlich geht es bei der musikalischen Stimmung nicht nur um die Musik, sondern eben darum, wie uns die Musik als Sprache der Gefühle emotional anspricht. Das kann man nicht nur über die Wahl der Musik, sondern im Sinne einer Basisleistung noch vor dem Musizieren über eine entsprechende Ausrichtung der musikalischen Stimmung tendenziell beeinflussen.

Das Gegenteil zu einer solchen Art der Ver-Stimmung ist die gute Stimmung. Doch was macht eine gute Klavierstimmung aus? Wo genau liegen die Unterschiede? Nun zum einen werden die in sich verstimmten Einzeltöne durch das Stimmen beruhigt. Dazu muss man wissen, dass zu Gunsten von mehr Lautstärke im Klavier pro Ton außer in der untersten Oktave immer 2 beziehungsweise 3 Saiten gleichzeitig angeschlagen werden. Der Ton einer Saite wird also durch mehrere Saiten in der Lautstärke quasi vervielfältigt. Die Präzision des einzelnen Tons durch die Über-ein-Stimmung der 2 oder 3 Saiten fördert die Genauigkeit der Intervalle. Vergleicht man vor diesem Wissenshintergrund die Wirkung meiner Kurzfassung des C-Dur-Praeludiums von Johann Sebastian Bach im zweiten Teil meines Probespiels jeweils vor und nach dem Stimmen, so wird der Unterschied in Form konkreter körperlicher Reaktionen deutlich, die ich am Seitenende näher beschreiben werde.

Und wie verhält es sich mit den weiteren Unterschieden zwischen Verstimmung und guter Stimmung? Gibt es dazu ähnliche Bedingungen zur Orientierung der unterscheidenden Wahrnehmung? Ja, die gibt es. Das sind zusätzlich zur Präzision zum Beispiel die Kriterien

Vermutlich fragen Sie nun: Inwiefern ist die Spreizung eine Besonderheit der Klavierstimmung? Dieses Phänomen hängt ursächlich mit der Intensität der Tonerzeugung zusammen. Beim Klavier werden die Saiten über eine so genannte Hammermechanik angeschlagen. Entsprechend seinem Namen Piano-Forte kann die über eine derartige Hammermechanik mögliche Anschlagsdynamik im Fortissimo entsprechend große Kräfte entfalten, die bei professionellem Übungsumfang und -intensität zu einer wesentlich schnelleren Verstimmung als im Regelfall führen. Das müssen Saiten erst einmal aushalten, ohne gleich aufgrund der hohen Belastung zu reißen. Dafür hat man im Klavier Saiten entwickelt, die dazu imstande sind. Doch das hat seinen Preis, nämlich in Form der so genannten Inharmonizität der Saiten. Das heißt, dass die Saiten in sich Fehler im Abstand der Obertöne haben. Die Obertöne entstehen aus dem ganzzahligen Vielfachen der Grundfrequenz der Saite. Das ist der Regel so. Nicht jedoch bei den in sich inharmonischen Klaviersaiten. Hier sind die Obertöne aufgrund der höheren Saiten-Steifigkeit etwas gespreizt. Die Theorie meint dazu, dass die Obertöne für unser Hörzentrum der ausschlaggebende Parameter sind, über den wir Intervalle als mehr oder weniger harmonisch empfinden. In der Schlussfolgerung passt man daher beim Klavier die Stimmung der jeweiligen Spreizung der Klaviersaiten an. Der Grad der Spreizung hängt unter anderem von

  • der Länge der Saiten und somit im Wesentlichen von der Höhe des Klaviers beziehungsweise Länge des Flügels,
  • dem verwendeten Saitenmaterial sowie
  • den für den jeweiligen Ton verwendeten Saitenstärken, der so genannten Mensur,

ab.

Nun brauchen Sie vermutlich erst einmal eine kurze Pause. Denn wir soeben gemeinsam den theoretischen Hintergrund zur Spreizung der Klavierstimmung in kompakter Form besprochen. Hat man diesen Zusammenhang verstanden und kann man mit den Parametern der Stimmung flexibel umgehen, ohne das Ganze aus dem Blick zu verlieren, so ergeben sich daraus für das Ohr sowie die Wirkung der Musik interessante Ergebnisse. Das können Sie nun im unmittelbaren Vergleich der beiden Aufnahmen am Seitenanfang selbst nachvollziehen. Die Verstimmung weist nämlich nicht nur keine Spreizung auf, sondern hört sich aufgrund der oben beschriebenen Besonderheiten der Herangehensweise der meisten Stimmer wie eine Minus-Spreizung an. Die zweite Aufnahme ist dagegen gespreizt gestimmt. Der Grad der von mir gewählten Spreizung ist relativ normal. Doch der Unterschied ist deutlich hörbar und in der Wirkung spürbar. Die Verstimmung lässt einen beim Hören in den oberen Oktaven innerlich regelrecht zusammenfallen, während einen die gute, da gespreizte Stimmung signifikant aufrichtet und befreit durchatmen lässt, wenn man seine Aufmerksamkeit auf die in einem stattfindenden Somatischen Marker lenkt.

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